Geht es um die Bewertung börsennotierter Unternehmen, rückt der Kurs der Aktie zunehmend in den Blickpunkt. Die Relevanz des Börsenkurses wird insbesondere von der Rechtsprechung betont, während sich die Fachliteratur im allgemeinen distanziert verhält und weiterhin eine Bewertung nach Ertragswertverfahren – in Deutschland i.d.R. IDW S 1 – favorisiert. Ein aktueller Beschluss des OLG Düsseldorf (26 W 4/21 vom 28.11.22) gibt Anlass, diesem Problem noch einmal nachzugehen.
Unterscheidung “Preis” und “Wert”
Ausgangspunkt ist die grundlegende Unterscheidung zwischen „Preis“ und „Wert“. Jede Ware wird nur deswegen gehandelt und erhält im Moment des Kaufvertrages einen „Preis“, weil die Parteien von einem unterschiedlichen „Wert“ der Ware ausgehen – der Verkäufer von einem Wert, der unterhalb des Preises und der Käufer von einem Wert, der oberhalb des Preises liegt. Nur deswegen kommt ein Kaufvertrag überhaupt zustande.
Nun ist aber der „Wert“, die eine Partei einer Sache beimisst, ein subjektiver Wert (anders könnten unterschiedliche Werte für die gleiche Sache gar nicht zustande kommen) und hängt davon ab, in welcher Situation und in welchem Umfeld sich eine Person befindet. Fleischliebhaber würden beispielsweise einem saftigen Rindersteak einen anderen Wert beimessen als beispielsweise Veganer; eine Flasche Wasser hat – auch für die gleiche Person – in der Wüste einen höheren Wert als eine Hand voller Diamanten, während es in unseren gemäßigten mitteleuropäischen Breiten wohl eher umgekehrt ist. Ein solcher subjektiver Wert ist jedoch intersubjektiv nicht nachprüfbar und deswegen in Streitfällen ungeeignet, wie sie sich z.B. in Spruchverfahren ergeben.
Objektivierter Unternehmenswert
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Unternehmensbewertung bezieht sich daher nicht auf den „subjektiven“, sondern auf einen „objektivierten“ Unternehmenswert. Gesucht ist der Wert, der sich als Preis bilden würde bei einer freiwilligen Veräußerung unter Gleichen auf einem freien Markt (IDW S 1 2008, Tz. 13).
Was hätten sachkundige, vertragswillige und voneinander unabhängige Partner unter marktüblichen Bedingungen am Stichtag vereinbart? Das BVerfG hatte einen solchen „objektivierten“ Unternehmenswert im Sinne, als es im seiner „DAT/Altana“ – Entscheidung im Jahre 1999 davon sprach, eine Entschädigung für den Verlust des Aktieneigentums könne nur dann als „volle” bezeichnet werden, wenn sie den „wirklichen” oder „wahren” Wert der Unternehmensbeteiligung an dem arbeitenden Unternehmen unter Einschluss der stillen Reserven und des inneren Geschäftswerts widerspiegele (1 BvR 1613/94 vom 27.04.1999). Diese Feststellung ist bis heute relevant und wird bis in den jüngsten gerichtlichen Entscheidungen regelmäßig zitiert.
Entspricht die Bestimmung des Anteilswertes allein anhand des Börsenkurses den gesetzlichen Bewertungszielen?
Unstreitig ist auch, dass weder ein Gesetz noch das BVerfG eine bestimmte Methode für eine Unternehmensbewertung vorschreiben, die den genannten Grundsätzen gerecht wird. Neben der bislang praktisch „allein herrschenden“ Ertragswertmethode rückt die Rechtsprechung zunehmend eine unmittelbare Bestimmung des Anteilswertes allein anhand des Börsenkurses in den Vordergrund (zuletzt OLG Düsseldorf 26 W 4/21vom 28.11.22). Aufgabe des Tatrichters sei es allerdings, festzustellen, ob die gewählte Bewertungsmethode den gesetzlichen Bewertungszielen – mithin des Vorgaben den Vorgaben des BVerfG – entspricht.
Kernpunkt der Diskussion, ob Börsenkurse den wahren Wert des Unternehmensanteils „Aktie“ widerspiegeln, ist die Frage der Informationseffizienz. Zurückgehend auf Fama (Journal of Finance 1970,383) werden 3 Formen unterschieden:
- Bei der schwachen Form werden lediglich die Informationen über die vergangene Kursentwicklung im aktuellen Marktpreis berücksichtigt. Die Praxis versucht, sich dies als „technische Wertpapieranalyse“ nutzbar zu machen.
- Unter mittelstrenger Informationseffizienz wird eine Situation verstanden, in der der Marktpreis alle öffentlich zugänglichen Informationen berücksichtigt. Dies schließt u.a. Informationen mit ein, die sich aus vergangenen Kursbewegungen gewinnen lassen. Jedoch werden hier zudem noch alternative öffentliche Informationsquellen wie Informationen aus der externen Rechnungslegung, Analysteneinschätzungen etc. hinzugezählt. Wir nennen dies „Fundamentalanalyse“
- Die strenge Informationseffizienz berücksichtigt darüber hinaus auch alle nicht öffentlich zugänglichen Informationen. Sie entspricht der Sicht eines Unternehmens-Insiders.
Diese Unterscheidung wird deswegen praktisch, weil die grundsätzliche Risikoaversion eines Anlegers dazu führt, dass Risiken stärker als Chancen gewichtet werden. Man kann also grundsätzlich davon ausgehen, dass der Börsenwert einer Aktie umso höher ist, je besser und je mehr Informationen über das zugrunde liegende Unternehmen zur Verfügung stehen, weil nämlich der Risikoabschlag zunehmend zurückgeht. Dies führt zu dem Schluss, dass der „wahre Wert“ einer Aktie nur unter der Bedingung der strengen Informationseffizienz zutage tritt.
Diese Konsequenz hat auch das OLG München gesehen (Beschluss 31 Wx 190/20 vom 14.12.21) und ausgeführt, die Konsequenz wäre, dass entgegen der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH ein Anknüpfen an den Börsenwert zur Bestimmung des Fundamentalwertes des Anteils nicht möglich sei, obwohl die vom BGH gewählte Formulierung „auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung gestellten Informationen und Informationsmöglichkeiten“ bereits anklingen lässt, dass eine halbstrenge Informationseffizienz ausreichend sei. Der BGH hatte ausgeführt, auch bei der Berücksichtigung des Börsenwerts werde der Wert eines Anteils nicht unabhängig vom Wert des Unternehmens ermittelt. Denn die Berücksichtigung des Börsenwerts beruhe auf der Annahme, dass die Marktteilnehmer auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung gestellten Informationen und Informationsmöglichkeiten die Ertragskraft des Unternehmens, um dessen Aktien es geht, zutreffend bewerten und sich die Marktbewertung im Börsenkurs der Aktien niederschlüge (Beschluss II ZB 25/14 vom 12.01.16). Das OLG München hat hinzugefügt , dass ein Bewerter im Rahmen einer Ertragswertberechnung zwar auf etwaige Geschäftsinterna und damit Insiderwissen zurückgreifen könne, dies aber nicht notwendigerweise eine bessere Annäherung an den „wirklichen“, „wahren“ Wert der Unternehmensbeteiligung gewährleiste als eine Marktschätzung.
Folgt man diesem Gedankengang, kommt man zu der Frage, unter welchen Bedingungen ein Börsenwert für die Ermittlung des Unternehmenswertes die gleiche Güte aufweist wie eine Ertragsbewertung. Dies ist immer dann der Fall, wenn die tatsächlich vorhandene mittelstrenge Informationseffizienz sich möglichst weit an die – eigentlich gewünschte – strenge Informationseffizienz annähert. Dies war Gegenstand der Entscheidung des OLG Düsseldorf (Beschluss 26 W 4/21 vom 28.11.22).
Hintergrund der Entscheidung ist der Gedanke der möglichst effizienten Verarbeitung möglichst vieler Informationen über das betreffende Unternehmen durch die Marktteilnehmer. Je besser dies gelingt und je mehr Einschätzungen über den Wert einer Aktie vorliegen, umso eher kann davon ausgegangen werden, dass der an der Börse beobachtete „Preis“ dem „wahren Wert“ entspricht. Erforderlich ist also eine möglichst hohe „Liquidität“ des Marktes, wie sie insbesondere im Handelsvolumen pro Tag (Anzahl der gehandelten Aktien), der Relation aus Tagen mit Handel zu möglichen Handelstagen, der Streubesitz (Anteilsquote des Streubesitzes zur Gesamtaktienzahl), die Handelsquote (Anzahl der gehandelten Aktien im Verhältnis zum gesamten Aktienbestand und zum Streubesitz) sowie die durchschnittliche relative Geld-Brief-Spanne gemessen am Durchschnittswert der Indizes.
Als Negativkriterium zieht das Gericht die Regelung des § 5 WpÜG-AV heran, wonach der Börsenkurs nicht mehr relevant ist, wenn für die Aktien des zu bewertenden Unternehmens während der letzten drei Monate vor dem Bewertungsstichtag nur an weniger als einem Drittel der Börsentage Börsenkurse festgestellt worden oder mehrere nacheinander festgestellte Börsenkurse um mehr als 5 Prozent voneinander abweichen.
Das Gericht musste keine Entscheidung darüber treffen, wo genau die Grenzen liegen, jenseits derer ein Börsenkurs nicht mehr für die Bewertung von Unternehmensanteilen herangezogen werden kann, da alle herangezogenen Kriterien nach seiner Auffassung deutlich verfehlt waren, so dass in dem zu entscheidenden Fall nicht von einer hinreichenden Liquidität des Marktes ausgegangen werden konnte.
Fazit
Als Ergebnis bleibt daher festzuhalten, dass immer dann, wenn ein Unternehmenswert allein auf der Grundlage von Börsenkursen ermittelt werden soll, eine genauere Analyse der Marktsituation des zu bewertenden Unternehmens erforderlich wird. Hier wird es dann auf eine – ggf. gutachterliche unterlegte – Gesamteinschätzung ankommen, da eine starre Grenze für die Beurteilung der Marktliquidität wohl nicht infrage kommt. Umgekehrt wird sich auch bei einer Bewertung nach dem Ertragswertverfahren die Frage der zutreffenden Bewertung stellen, wenn der danach ermittelte Unternehmenswert deutlich von der Bewertung „im liquiden Markt“ abweicht. Dies wäre nämlich ein Indiz dafür, dass einzelne wertbestimmende Parameter unterschiedlich gewürdigt werden, was – positiv wie negativ – zu einer Überprüfung der Bewertungsannahmen führen sollte.
Bisher nicht erörtert sind Einflüsse dieser Entscheidungen auf die Bewertung nicht börsennotierter Unternehmen. Misst man dem Grundsatz der mittelstrengen Informationseffizienz auch hier Bedeutung zu, könnte dies dazu führen, dass auch hier bei der Bewertung nur auf die Informationen zurückgegriffen werden muss, die der jeweiligen Partei zur Verfügung stehen und weiteres („Insider“)- Wissen nicht zu berücksichtigen ist. Dies könnte sich auch auf Synergiepotenziale erstrecken, die lediglich einzelnen Parteien bewusst sind. Damit käme es zu einem Rückschritt von der „objektivierten“ zurück zur „subjektiven“ Unternehmensbewertung.
Gerne beraten wir Sie zu Ihren persönlichen Fragen.
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Autor:
Diplom-Kaufmann
Wolf Achim Tönnes
Wirtschaftsprüfer Steuerberater Rechtsanwalt, Of Counsel
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